Europa ist im Werden – und wo sind die Kirchen?

21_europe.jpgWas ist eigentlich Europa? Europa geographisch festzulegen scheitert genauso wie eine Festlegung auf kulturelle und sprachliche Grenzen. Natürlich haben u.a. das römische Recht, die griechische Philosophie, das Christentum, die Aufklärung Europa nachhaltig geprägt. Aber Europa ist kein statisches Gebilde und Europa ist mehr als die EU.

Sven Giegold, ehemaliger Europaabgeordneter der Grünen, spricht von Europa als einem Zivilisationskonzept. Dies beinhaltet, dass erstens Europa auf ein grundlegendes Gemeinsames zurückzuführen ist und zweitens ein Projekt mit einer zu gestaltenden Zukunft darstellt. Wenn der französischen Präsident Emmanuel Macron vor dem Europäischen Parlament drei Versprechen Europas nennt, Rechtsstaatlichkeit, gemeinsamer Fortschritt, Frieden, dann sind diese nichts anderes als ein konkretes Entfalten des Zivilisationskonzepts „Europa“, ausgehend von gemeinsam festgelegten Werten. Europa ist also im Werden.

In dem Roman Die Hauptstadt stellt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse ironisch die These auf, dass Europa eigentlich auf den Trümmern Auschwitz gebaut sei! Eine provokante These und doch: der Schock über die noch warmen Öfen der Vernichtungslager in Auschwitz, Treblinka, Dachau etc. brachte die Nationen Europas zusammen. Der Tod atmet sich schwer durch die Europäische Geschichte. Die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 und der Europäische Gerichtshof gegründet 1957 sind klare Signale des Europarates: Nie wieder soll es in Europa Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben.

Eine stärkere Verwobenheit vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht brachte dann die EU. Nach dem Fall der Mauer gewann das Zivilisationsprojekt Europa eine neue Dynamik und riss mit seinem Schwung auch die Kirchen mit. Die Charta Oecumenica und ihre Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa unterzeichnet von der Konferenz Europäischer Kirchen[1] und der Konferenz der Europäischen (katholischen) Bischofskonferenzen spiegelt diese Dynamik wider. Wohlgemerkt: Die Charte Oecumenica spricht vom Kontinent Europa und nicht von der EU, wenn die Kirchen sich für eine Einigung Europas aussprechen.

Wo sind die Kirchen ?

Europa ist im Werden und die Begeisterung der Neunziger Jahre ist heute einem ernüchternden Realismus gewichen. Zwar wird seitens der EU-Verträge Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften in der EU „ein offener, transparenter und regelmäßiger Dialog“[2] zugesichert, die Frage hinsichtlich verfassungsrechtlicher Regelung jedoch den Mitgliedsstaaten überlassen. Eine klare Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und ein klares Bekennen zu weltanschaulicher Pluralität Europas.

Auch wenn es einige Kirchenvertreter innen - die kirchliche „Vielfalt“ in Europa ist immer noch männerdominiert! – nicht wahrhaben wollen: Kirchen kommen in der politischen Welt Brüssels nur am Rande vor und der Leitgedanke Einheit in der Vielfalt wird sowohl in der EU als auch in ökumenischen Dialogprozessen immer mehr zur Herausforderung.

Die Stärke der Kirchen liegt auf einer anderen Ebene. Sie sind gerade gefragt, wenn es um grundlegende Fragen des Menschseins geht, oder mit Paul Tillich zu sprechen „Um Dinge, die uns unbedingt angehen“. Die Anerkennung der Würde eines jeden einzelnen Menschen ist Wesen des Evangeliums und die Grundlage für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die drei Pfeiler des Europarates.

Beim Europarat in Strasbourg werden Standards gesetzt, die nachher in nationaler aber auch in EU-Politik einfließen. Hier ist die KEK partizipatives Mitglied und hat in bioethischen Fragen als auch Fragen von Bildung und ein gewisses Mitspracherecht. Der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde meinte einmal, dass der liberale demokratische Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht begründen kann. Gerade Kirchen können diese Voraussetzungen schaffen, indem sie als Teilhaberinnen der Zivilgesellschaft ihren Auftrag der Evangeliumsverkündigung insofern politisch verstehen, als dass in ihr der Freiheit und derMenschenwürde die höchste Priorität zukommt.

Drei Thesen möchte ich in dieser Hinsicht formulieren:

  1. Europa ist im Werden – Das Zivilisationskonzept Europa ist nicht gleichzusetzen mit dem Reich Gottes. Christen predigen das Evangelium und nicht Europa. Aber Kirchen können auf vielfältige Weise gemeinsam dazu beitragen, dass ein gerechteres und sozialeres Europa entsteht.
  2. Kirchen werden in Zukunft in Europa nur eine Rolle spielen, wenn sie lernen nicht nationale Interessen zu vertreten, sondern das Evangelium Jesu Christi dergestalt ernst nehmen, dass das sich Einsetzen für Menschenwürde und -rechte, d.h. Minderheitenschutz und Religionsfreiheit integraler Bestandteil ihrer Verkündigung sind.
  3. Eine pluralistische Gesellschaft braucht integrierende Elemente, und dazu gehören Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Nur gemeinsam und im Dialog können sie zu dem gerechten und sozialen Zivilisationsprojekt Europa beitragen.

 

Sören Lenz
Generalsekretär der Kirchen am Rhein,
Vertreter der KEK und Co-Präsident des Interreligiösen
und Interkonviktionellen Dialog Komites beim Europarat in Strasbourg

 

[1] Zur Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) gehören die meisten orthodoxen, reformatorischen, anglikanischen, freikirchlichen und altkatholischen Kirchen in Europa.

[2] So Art. 17 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12012E/TXT:de:PDF ; abgerufen am 31. 01.2022.

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