In unserer Region ist es längst selbstverständlich geworden, dass man sich frei über die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich bewegen kann, und zwar ohne, dass jemand nach dem Grund fragt. Niemand konnte sich vorstellen, dass uns diese Freiheit drei Monate lang genommen wird! Die Corona-Krise wurde dadurch zu einer Stunde der Wahrheit für die deutsch-französischen Beziehungen. Zwei wichtige Erkenntnisse haben wir während den drei letzten Monate gewonnen.
Die erste Erkenntnis ist unangenehm: alte „Dämonen der Vergangenheit“, die man für gestorben hielt, sind immer noch sehr präsent und warteten nur auf eine Gelegenheit wie diese Pandemie, um wieder lebendig zu werden und viele Verletzungen zu verursachen. Viele Pendler, die in Frankreich leben und in Deutschland arbeiten, können davon zeugen. Manche wurden von der Polizei schikaniert, manche wurden auf ihrem Arbeitsplatz wie Pestträger behandelt, und manchmal sogar beleidigt. Auf französischer Seite hat man während der Krise wieder antideutsche Aussagen in den sozialen Netzwerken und auf der Straße gehört. Rassistische Sprüche und Verhaltensweisen sind auf beiden Seiten nur eine Minderheitenerscheinung. Man sollte sie trotzdem als Warnsignal begreifen. Außerdem sind die Schäden, die eine solche Minderheit verursacht, enorm. Da die Stimmung an der Grenze so schnell gekippt ist, fragen sich manche: „Haben denn 75 Jahre Frieden, 75 Jahre gelebte Freundschaft keine Wirkung?“ Doch, daran soll man nicht zweifeln: es wurde in diesen Jahren so viel erreicht. Man darf aber nicht vergessen, dass unser Grenzgebiet seit dem Mittelalter regelmäßig zu einem Schlachtfeld geworden ist. Diese Geschichte verbindet uns einerseits, andererseits sind dadurch Wunden entstanden, die so schnell nicht heilen. Diese Verletzungen, wenn sie nicht ausreichend verarbeitet wurden, werden von Generation zu Generation übertragen, auch auf Generationen, die den Krieg nie erlebt haben.
Durch die Corona-Krise hat sich aber auch gezeigt, dass die deutsch-französische Freundschaft immer noch lebendig ist und in unserer Region viel bedeutet. Diese Bedeutung kam durch verschiedene Aktionen zum Ausdruck. Am 1. Mai fand z.B. eine symbolische Aktion an der Grenze zwischen Lauterbourg und Neulauterburg statt. An der Grenze wurde eine Wäscheleine installiert und ein jeder war dazu eingeladen, ein Plakat aufzuhängen, um ein Zeichen für die deutsch-französische Freundschaft zu setzen. Mehr als 150 Plakate wurden aufgehängt. Auf einem Plakat, das mir besonders in Erinnerung geblieben ist, stand einfach: „Vous nous manquez“, „wir vermissen euch“. Zwischen Straßburg und Kehl fand auch eine Bürgerinitiative statt: Deutsche und Franzosen winkten sich über dem Rhein mit Regenschirmen zu. Viele Bürgermeister und Abgeordnete aus dem Elsass, der Pfalz und Baden haben sich für eine Lockerung der Grenzkontrollen engagiert.
Nach dieser Krise ist für uns noch deutlicher geworden, wie wichtig es ist, die Beziehung zwischen den beiden Seiten der Grenze zu pflegen. Unser Zeugnis als Christen (nach innen und außen!) ist das, was Paulus im Galaterbrief so deutlich schreibt (Gal 3,28). Wo es damals um die sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Sklaven und Freien bzw. Frauen und Männern ging, gilt heute genauso, dass wir nicht – neben- oder gegeneinander – Franzosen und Deutsche sind, sondern „allesamt einer in Christus“.
Die Einheit von der Menschheit in Christus heißt nicht, dass man sich die Auseinandersetzung mit den kulturellen Unterschieden und mit den Verletzungen der Vergangenheit sparen könnte. Dadurch würden nur oberflächliche Beziehungen entstehen. Unser Modell soll die Pfingstgeschichte sein: „Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?“ Ein jeder wird in seiner Muttersprache angesprochen. Er wird mit seiner Kultur und seiner Geschichte wahrgenommen. Durch diese Wahrnehmung entsteht eine gelungene Kommunikation, und durch diese gelungene Kommunikation wird sichtbar, dass all diese Menschen über alle Grenzen hinweg verbunden sind.
In unserer heutigen Zeit ist es dringend geworden, dass wir uns von diesem Wunder der Pfingstgeschichte inspirieren lassen, und dass wir uns von der grenzüberschreitenden Kraft des Heiligen Geistes treiben lassen. Gegen alle politischen Kräfte, die die Franzosen in ihre französische Identität, und die Deutschen in ihre deutsche Identität einsperren wollen, wollen wir zeigen, dass der Mensch immer viel mehr als eine nationale Identität ist.
Pfarrern Axel Imhof und Heiko Schwarz