Die Grenzerfahrungen der Covidkrise und die damit verbundenen ethischen Fragen und Fragen der Religionsfreiheit motivieren die deutschen Stadtgemeinden zu einer grösseren Sichtbarkeit der Kirche mit ihren Werten, ihrer sozialen Kompetenz und Netzwerkarbeit und ihrem Verantwortungsbewusstsein.
Die Covid-Krise hat uns alle an viele Grenzen geführt, die der Gesundheitssysteme, der Bewegungsfreiheit, der Solidarität, auch der bürgerlichen Freiheiten. Zwischen Ländern und Nationen sind unerwartet Barrieren entstanden – auch zwischen Frankreich und Deutschland. Was für eine bedrückende Erfahrung, nicht „einfach so“ über den Rhein fahren zu können.
Es gibt neue soziale Grenzziehungen zwischen Alters- und Berufsgruppen, zwischen Pandemie-Gewinnern und Verlierern. Die Covid-Krise hat uns auch an die Grenzen unserer Rationalität geführt. Was ist Wahrheit? Was ist Lüge? Wir sind vor ethischen Entscheidungen gestanden: Was ist in der Pandemie geboten? Was dürfen wir auf keinen Fall zulassen oder tun? Als Christinnen und Christen, als Kirche stehen wir gemeinsam mit allen anderen Akteuren der Gesellschaft mit unseren Überzeugungen an diesen Grenzen und hatten und haben unsere Antworten zu geben.
In grundlegenden Diskussionen ging es auf neue Weise um die Rolle und den Standort der Kirche in einer Gesellschaft in der Krise. Modalitäten wurden gefunden, die auf verantwortliche Weise die Feier von Gottesdiensten unter großen Auflagen und Einschränkungen möglich machten: kein Gemeindegesang, Sicherheitsabstände, das ganze Repertoire an Hygienemaßnahmen. Es gab kritische Stimmen vor allem aus der Kultur und aus der Bildung. Warum die Kirchen? Warum dürfen nicht auch die Theater, Museen, andere Kultur- und Bildungseinrichtungen öffnen?
Die Politik musste Antworten geben. Es waren immer auch Stellungnahmen zu Religion und Gesellschaft. In den Kirchengemeinden standen wir auf unsere Weise Rede und Antwort: wir haben Kulturschaffende einbezogen in unsere Gottesdienste, unsere Kirchen und Gemeindehäuser für sie und andere geöffnet. Es gab Solidaritätsaktionen mit besonders von der Pandemie Betroffenen. Die großen kirchlichen Räume mit ihren Sicherheitsabständen waren auch Orte des Asyls.
Nahe bei den Menschen bleiben
Insgesamt blieb die öffentliche Kritik am Sonderstatus der Kirche erstaunlich zurückhaltend. Vielleicht weil in den härtesten Wochen des Lockdowns sichtbar war, dass von den Kirchengemeinden Impulse der Solidarität und der Nachbarschaftlichkeit ausgingen; vielleicht auch weil die kirchlichen Angebote der Seelsorge, der Lebensberatung, der Spiritualität neu als wertvoll in dieser Krisenzeit erfahrbar wurden. Noch sind wir zu nahe, um es wirklich bewerten zu können. Ich erinnere mich an Gespräche mit Verantwortlichen aus Politik, Kultur und Wissenschaft, die geradezu forderten: zieht Euch nicht zurück. Seid sichtbar mit Euren Werten, mit Eurer sozialen Kompetenz, mit Eurem Verantwortungsbewusstsein auch für die schwachen Mitglieder unserer Gesellschaft. Bleibt nahe bei den Menschen.
Die Kirchengemeinden haben sich darum bemüht. Es sind neue Solidaritäten und Nachbarschaften entstanden - auch mit Gewerbetreibenden und Institutionen, die sonst kaum Berührung mit der Kirche haben. Werden sie Zukunft haben?
Unsere Kirchengemeinden haben den Sprung in die Digitalisierung mitvollzogen. In zahlreichen Gemeinden können die Gottesdienste auch in audio- oder audiovisueller Form mitgefeiert werden. Die Hybridisierung auch des lokalen kirchlichen Lebens ist in vollem Gange. Sie wird auch in Zukunft Teil unserer Verkündigung sein. Auf die reale Beteiligung an den Gottesdiensten hatte das bisher keine negativen Auswirkungen. Im Gegenteil: Seit die Älteren geimpft sind und wieder zu den Gottesdiensten kommen können, erleben wir eine erfreulich große Gottesdienstgemeinde. Ist das eine Folge der Covid-Krise? Noch ist es auch hier zu früh für eine Beurteilung.
Nicht zu früh ist es aber zu sagen, welche Herausforderung die Covid-Krise z.B. für die Seelsorgearbeit und für die Verkündigung bedeutet. Zu den am schwersten Betroffenen gehören Kinder und Jugendliche und Alleinlebende, oft ältere Menschen. Dazu zählen Menschen, die in den vergangenen Monaten Angehörige verloren haben, die keine Chance hatten, in Würde Abschied zu nehmen. Haben wir angemessene seelsorgerliche Angebote? Was wir wissen: In den Stadtquartieren haben sich Kirchengemeinden als verlässliche Netzwerkerinnen in der Zivilgesellschaft erwiesen. Wir sollten das würdigen und weiter pflegen. Die Gottesdienste und die Spielräume ihrer Gestaltung sind für einen Moment aus ihrem Nischendasein herausgetreten. Es gibt neue Chancen des Feierns, der Beteiligung, auch der Verkündigung.
Zeuginenn und Zeugen sein
Als Christinnen und Christen sind wir neu gefragt nach unserem Ethos in diesen Umbruchszeiten. Müssen wir selbstbewusster ethische und auch gesellschaftspolitische Fragestellungen in den Diskurs unserer Gesellschaft einbringen? Müssen wir politischer werden? Auf jeden Fall sollten wir uns nicht in ein Nischenchristentum zurückziehen.
Die Covid-Krise hat uns an viele Grenzen geführt. Was haben wir dort gesehen und wahrgenommen? Die Zerbrechlichkeit unserer Gesundheit, von Freiheit und Solidarität? Den Wert von Gemeinschaft? Oder unsere Einsamkeit? Das Geschenk von Freundschaft und Verbindlichkeit? Oder ihren Mangel?
In den vergangenen Monaten ist das Leben durchsichtiger geworden auf das andere Leben hin, dessen Zeuginnen und Zeugen wir als Kirchen sind; durchsichtiger auf die Orte und Zeiten hin, wo die Solidarität, die wir einander geben können, in ihre Würde kommt; wo die Stille und das Innehalten, das Hören, das Miteinander-Reden und -Fragen, als etwas Großes erscheint; wo diese zerbrechliche Schöpfung als eine Gabe und als eine Aufgabe erkennbar wird; wo die Flüchtigkeit unseres Hierseins als etwas unvergleichlich Kostbares ins Licht tritt. Wertvoll ist jeder Moment, in dem wir einander gut sind; traurig jedes Wort, das uns zu Feinden macht. Bedeutend ist jeder Augenblick, den wir als Schwestern und Brüder miteinander teilen – auch über Länder- und Sprachgrenzen hinweg.
Diese Dimension unseres Lebens, die uns im Evangelium geschenkt wird, ist in der Zäsur, die die Covid-Krise bedeutet, sichtbarer geworden. Wir sollten uns nicht schämen, sie sichtbar und erfahrbar zu halten – auch in unserer kirchlichen Partnerschaft zwischen Strasbourg und Stuttgart.
Pfarrer Eberhard Schwarz,
Ev. Kirche in der City / Hospitalkirche Stuttgart
1b quai Saint Thomas
67000 STRASBOURG
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